Was man liebt, sollte man im entscheidenen Moment loslassen können.
Dieser Satz schießt mir jetzt durch den Kopf. Also lasse ich los. Mein Kopf ist vielleicht 10 Zentimeter vom Asphalt entfernt. Vor mir rutscht die R45 auf Augenhöhe in einem Funkenregen über die Straße.
Der Gedanke, dass ich ausgerechnet heute nur die Jeans trage. Also Gewicht auf die Protektoren der Lederjacke verlagern. Was war eigentlich hinter mir? Ein Auto. Ist das noch da?
Benzingeruch.
Da vorn ein Laternenpfahl. Glücklicherweise nicht auf Kollisionskurs. Ein Mann am Rand meines Gesichtsfelds, raucht, steht, schaut. Das Kratzen und Kreischen von Stahl auf Straße.
Dann Bewegungslosigkeit. Endlich.
Die erste Frage lautet …
Meine Rutschpartie ist beendet. Die R45 knirscht noch ein wenig weiter. Die erste Frage, die mir blödsinnigerweise durch den Kopf schießt: Wie geht es dem Motorrad? Meine aufgeschürfte, geprellte Seite und die gestauchte Hand bemerke ich erst sehr viel später. Dann rekonstruiere ich. Irgendwie muss sich der Seitenständer gelöst haben, hat sich in der Linkskurve in die Straße gegraben. Kontrolle und aufrechter Sitz waren auf einen Schlag dahin.
Was mich immer wieder fasziniert, ist die Intensität des Moments, diese zeitlupenartige Wahrnehmung in brenzligen Situationen. Diese grandiose Aktivierung von Reserven, zu der wir imstande sind. Psychologisch ist das gut erforscht. In Stresssituationen schüttet der Körper Adrenalin aus. Der Körper wird mit Energie geflutet.
DEFCON 1
Wäre man die USA, dann hieße es DEFCON 1 für den Körper. Höchste Bereitschaft zur (Re-)Aktion. Hämmerndes Herz, pumpende Schlagadern, die Muskulatur schaltet in den Aktionsmodus um. Sozusagen die individuelle Transformation zum Hulk. Natürlich in den uns jeweils gegebenen Grenzen. Aber immerhin.
Walter Cannon beschreibt das Reaktionsmuster mit „Fight or Flight“.* Angriff oder Flucht. Also wie damals in der Höhle im Pleistozän. Ob man dem Säbelzahntiger an die Kehle springt, oder ob man lieber wegläuft, hängt dann von Entscheidungen ab, die in Millisekunden getroffen werden. Ob sie klug sind, zeigt sich erst im Nachhinein.
Die für mich wesentliche Frage lautet: wie trifft man eine kluge Entscheidung unter Druck? Langes Abwägen ist ja nicht drin. Bleiben wir beim Säbelzahntiger. Wenn so ein Vieh in meiner Nachbarschaft lebt, kann ich mit einiger Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass es mir mal einen Besuch abstatten wird. Es wäre also dumm, sich nicht darauf vorzubereiten.
Ungefähr so ist es mit den beim Motorradfahren eigentlich allgegenwärtigen Risiken. Verdrängung halte ich für den falschen Weg. Den Einwand, dass die Steinzeit vorbei und der Säbelzahntiger ausgestorben ist, mag ich auch nicht gelten lassen.
Training. Mental
Wenn ich mir die Unfallstatistiken so ansehe, dann liegt der Verdacht nahe, dass sich offenbar ein paar Autofahrer gedacht haben, die Funktion postmoderner Karnivoren übernehmen zu müssen. Mit denen muss man rechnen.
Bernt Spiegel empfiehlt in seinem hervorragenden Buch mentales Training für Motorradfahrer.** Diesen Ansatz finde ich exzellent. In Gedanken werden konzentriert bestimmte Gefahrensituationen und darauf angemessenes Verhalten durchgespielt.
Eine schöne Übung ist beispielsweise die Suche nach der Lücke. Auf langweiligen Strecken kann man sich so die Zeit vertreiben. Der Gedanke beginnt eigentlich immer mit einem „Was wäre, wenn … ?“.
Was wäre wenn …
Was wäre, wenn der Trecker jetzt plötzlich abböge? Was wäre, wenn der VW jetzt in die Eisen steigt? Was wäre, wenn dich der Fiat da vorne nicht sieht und auf die Kreuzung fährt? Der Blick tastet dann immer den möglichen Fluchtweg ab.
Denn das Heil der Rettung liegt beim Motorradfahren ja selbst mit ABS häufig nicht in der Vollbremsung, sondern in der beherzten Beschleunigung, der Flucht ab durch die Mitte weg vom Gefahrenpunkt.
Ich habe mittlerweile einige Erlebnisse gehabt, die folgendem Muster entsprechen: gestresste Mutter („Welt mach Platz!“), Jungspunt mit elterlichem 5er BMW auf der Gegenfahrbahn („das schaff ich noch“), vollbremsender Mitsubishi auf einer Landstraße („da war aber bestimmt ein Frosch“), Bauer mit angespanntem Mähwerk („mein Feld, meine Straße“) und andere Situationen.
Wenn ich mich erst noch lange mit dem Gedanken hätte auseinandersetzen müssen, ob es möglich wäre, auf einer Landstraße zwischen zwei entgegenkommenden Autos durchzufahren, hätte ich es nicht getan. Die Alternative wäre eine Mauer oder der Frontalzusammenstoß gewesen.
Und genau darum geht es: sich den Adrenalinspiegel zunutze machen und mögliche Handlungsalternativen als solche zu erkennen, wenn es wirklich darauf ankommt.
Walter B. Cannon (1975): Wut, Hunger, Angst und Schmerz: eine Physiologie der Emotionen. München et al. Erstausgabe 1915. Siehe auch den lesenswerten Artikel im Tagesspiegel „Warum wir den Druck brauchen“ von Eva-Maria Träger vom 20.4.2013 [aufg. am 21.02.2019]; dabei den Hinweis auf abweichende Verhaltensmustern bei Frauen: nicht „fight or flight“, sondern „tend and befriend“.
**Bernt Spiegel (2012): Die obere Hälfte des Motorrads. Stuttgart.
Puh, klingt so, als sei der Sturz damals glimpflich ausgegangen.
Beim lesen deiner Gedanken zur mentalen Vorbereitung habe ich innerlich die ganze Zeit genickt, völlige Zustimmung.
Ergänzen möchte ich, dass man diese Situationen durchdenken und trainieren sollte. Einfach mal auf der Landstraße bei 100 und Nässe wegen des fiktiven Rehs in die Eisen gehen. Und die enge Staudurchfahrung trainiert auch.
Aber um überhaupt im Zweifelsfall die Option zwischen Fight or Flight zu haben, muss man auch so fahren, dass man diese Optionen hat. Dazu braucht man Raum in alle Richtungen. Den hat man, wenn man Abstand nach vorne, zur Seite (weg vom Straßenrand, hin zur Mittellinie, auch auf der Überholspur) und hoffentlich nach hinten hat. Das wiederum hat neben zusätzlichen Fluchtmöglichkeiten den großen Vorteil, dass man viel mehr sieht und so ganz nebenbei auch besser gesehen wird. Denn nur das, was du siehst, kann dich auch sehen. Und wenn man sich zeigt, besetzt man Raum und signalisiert das anderen. Selbstbewusstes Fahren statt Warnweste. Aber ich schweife ab.
Da ich diese Zeilen lesen kann, ist der Sturz anscheinend noch einigermaßen glimpflich ausgegangen.
Mentales Training, immer wieder predige ich dies und verhalte mich auch selbst entsprechend. Beim Fliegen stets auf der Suche nach einem Notlandefeld und beim Motorradfahren immer die rettende Lücke erhaschend. Spricht man das mentale Training an, erntet man leider meist nur mitleidige Blicke, Kopfschütteln oder bekommt den Vogel gezeigt. Ich bin aber davon überzeugt!
Jedenfalls sehr schön ge- und beschrieben, ich kannte dieses Blog bisher gar nicht, jetzt gebookmarked… 😉
Mitleidige Blicke finde ich merkwürdig. Letztlich machen es Profis auf der Rennstrecke ja nicht anders.
Hola-die-Waldfee, eins dieser Anti-Erlebnisse, die man sicher nicht vermisst und bei der man allein schon beim Lesen Gänsehaut kriegt!
Du hast Recht: Verdrängung ist der falsche Weg, aber doch sooo schön bequem…
Meinereiner versucht den übungsfaulen inneren Schweinehund durchs jährliche Buchen eines Trainings zu überlisten: Irgendwas bleibt immer hängen und je öfter man’s macht, desto eher klappt’s mit der richtigen Reaktion. Mentales Training wurde dabei bislang nicht gelehrt, erscheint mir aber nach Lesen Deines Beitrags nicht ganz unwichtig. Danke für den Grübelanstoß!
Jedenfalls freu ich mich, dass Du den Abflug gut überstanden hast!
Im Nachhinein bin ich sogar ziemlich froh für diese Erfahrung. Nun weiß ich, wie es ist, unfreiwillig abzusteigen. Das nimmt der ganzen Sache auch in gewisser Weise ihren Schrecken.
Ein Grund, warum ich gerne auf Schlechtwegen unterwegs bin. Alles ist etwas langsamer, problematische Verkehrsteilnehmer meiden diese Strecken und man wird technisch etwas mehr gefordert.
Auch Sicherheits und insbesondere Endurotrainings helfen den Blick für den Ausweg bzw. sicheren Weg zu schärfen und die Notfall-Manöver zu üben.
Schlechtwege fahre ich auch gern! Dein Tag 11 im Nevesinje Blidinje Nature Park wäre jetzt beispielsweise was!