„Die Bullet 500 ist eine Charakterschule.“ Begegnung mit Linne

Was mir am Motorradfahren so gefällt? Vieles. Eines ist besonders wichtig. Die Menschen. Ein Interview.

In einem Satz – was bedeutet Dir Motorradfahren?

Motorradfahren ist für mich eine Art von mithilfe der physikalischen Gesetze mobilisiertem Denken und Fühlen.

Gibt es einen Höhepunkt Deiner Motorradfahrerbiographie?

Irgendwann in den frühen Achtzigern, nach einer Trennung, besaß ich nur noch das, was in meinen blauen 1200er Käfer passte. Unter anderem auch (wenn man die Vorderradgabel demontierte) eine JAWA 122. Später, weil ich einen größeren, nagelneuen Motor organisieren konnte, ca. 170cc. Dieses Vehikel hatte seltsamerweise einen mysteriösen Magnetismus auf das andere Geschlecht. Dadurch schien es – zumindest in meiner Erinnerung – mit einem hoch emotionalen Bedeutungsmix aufgeladen zu sein.

Du hast Industriedesign studiert und 1979 Deine Examensarbeit geschrieben. Wie lautete der Titel?

„Langstreckenreisemotorrad“.

Was könnte man jetzt noch aus Deiner Arbeit lernen?

Tja. Vielleicht, dass man ein Thema auch mal ganz anders denken kann. Bei uns lag der Tank unterm Motor (es gab eine Benzinpumpe). Der Auspuff bildete das hintere Schutzblech, es gab einen Gepäckraum, auf dem der Oberkörper des Fahrers stundenlang bequem ruhen konnte.

1979, Examen an der Folkwangschule Essen-Werden (Im Bild Wolfgang Linneweber).

Der tiefe Schwerpunkt verlieh dem Trumm ein prima Handling. Motor und Rahmen stammten von einer Honda CB 750, damals ein zuverlässiges, bewährtes Motorrad.

1979, Examen an der Folkwangschule (im Bild Tomas Höfler; links tuschelnd Prof. Lengyel, Prof. Pilz).

Hinten hatten wir Paioli-Federbeine und eine Kastenschwinge, deren Hersteller ich nicht mehr weiß. Außerdem hatten wir Magura-Armaturen verbaut und eine Fußrastenanlage aus Nylon, die vielfältige Einstellungen erlaubte. Damals waren Digitalanzeigen der letzte Schrei. Tacho und Drehzahlmesser lagen tief und stets schattig in einem Schacht im Blickfeld des Piloten.

Wenn Du heute Deine Abschlussarbeit verfassen müsstest – worüber würdest Du schreiben wollen?

Jedenfalls nicht über ein Produkt. Ich fand, aus meiner damaligen extrem linken Haltung heraus, Produktdesign fast noch perfider und zynischer als Grafikdesign und die Werbebranche, die den Appetit auf immer neuen Blödsinn wachhalten soll(te). Vielleicht hätte mein Projekt was mit nachhaltigem Leben auf einem Stückchen eigenem Grund zu tun.

Wenn Du eine Abschlussarbeit im Bereich Industriedesign & Motorräder in Auftrag geben würdest: wie lautete der Titel?

„Entwickeln Sie ein Fahrzeug, das sich materialökonomisch bauen und mit einfachsten Mitteln reparieren und warten lässt.“

Wie würdest Du die 70er/80er beschreiben?

In Verlängerung der kulturellen und gesellschaftlichen Entwicklungen der 60er Jahre, in denen schon die entscheidenden Weichen gestellt worden waren, wuchs eine Generation heran, die alles Mögliche ausprobieren wollte und auch konnte.

Es gab ziemlich anarchistische WGs, eine ausgesprochen freizügige Sexualität, teils sehr interessante Drogen waren allgegenwärtig. Es wurde ungezügelt gedacht, gesponnen und diskutiert, durchaus nicht immer nur aus extrem linken Positionen heraus.

Die meisten Frauen, die ich kannte, waren sehr geradlinig in ihrem Handeln, wussten was sie taten und waren sehr selbstbewusst. Heute habe ich manchmal den Eindruck, dass mehr drüber geredet wird, als dass weibliche Emanzipation praktiziert würde.

Meine Siebziger waren wild und sehr mobil. Der Liter Sprit kostete 60, 70 Pfennig, zumindest bis zur Ölkrise. Es wurde auch mal nackt gefahren, mitten durch die Stadt (Krefeld). Zumindest bei entsprechendem Wetter.

Wenn Du die Motorradwelt der 70er und 80er mit heute vergleichst – hat sich etwas, abgesehen von Technik und Design, geändert?

‚Früher‘ gab es alterslose Kerle in schwarzem Leder auf martialisch anmutenden britischen Motorrädern, sogenannte Ölfüße. Anfang der Siebziger kesselten plötzlich jüngere Gestalten auf höllisch schnellen japanischen Dreizylinder-Zweitaktern über das Kopfsteinpflaster, denen schon bald Vierzylindermaschinen folgten. Typisch fand ich 500er und 750er Hondas, die u.a. für längere Touren, gerne bis aufs Nötigste gestrippt wurden.

Du fährst eine Royal Enfield Bullet 500. Weshalb?

Ich habe das Thema lange mit Vernunftargumenten verdrängt. Aber irgendwie war die RE Standard ein schon lange gehegter Wunsch. Als mein Renteneintritt näher rückte und der Sensenmann anfing, die Reihen meiner verwegensten Bekannten und Weggefährten auszulichten, habe ich zu meiner Frau gesagt: „Ich schiebe nichts mehr auf.“ Ein paar Monate habe ich auf den einschlägigen Plattformen gesucht und wurde schließlich in einem eher exotischen Online-Umfeld fündig. Der Inserent, ein Tätowierer aus einem niederrheinischen Grenzstädtchen, hatte schon vergessen, dass er das Motorrad überhaupt inseriert hatte.

Oktober 2018. Es sollte noch vier Monate dauern, bis sie lief und mit einem Kick ansprang.

Mich fasziniert diese exzentrische britische Konstruktion, die erhabene Optik des Motors und der Sound. Ich habe das Modell gekauft, weil ich eine Art Tamagochi gesucht habe. Etwas, worum man sich kümmern muss, das meine angeborene Schlunzigkeit und ein gewisses, unseriöses Blendertum nicht tolerieren würde. Die Bullet 500 ist eine Charakterschule. Sie zu warten und zu reparieren erfordert meine volle Aufmerksamkeit. Ich musste dazu viel lernen, um ihr vertrauen zu können und lerne täglich dazu.

Beschreibe, wenn es ihn gibt, den prototypischen RE-Fahrer.

Ich kann nur über die FahrerInnen der Standards sprechen, die ihre Motorräder selbst instand halten und reparieren. Und ehrlich gesagt, kenne ich noch nicht viele persönlich. In meiner Vorstellung sind sie deutlich über fünfzig, tragen Waxed Cotton, Goggles, Schnürstiefel und etwas altmodische Jethelme, passend zu ihren schwarzen Fingernägeln.

Gibt es ein Motorrad, das Du bei freier Wahl gegen die Royal Enfield eintauschen würdest?

Leider wird die Marke Harley Davidson von vielen Gestalten gefahren, die mir nicht liegen. Aber wenn’s denn sein müsste, dann könnte ich mir eine minimalistische Sportster vorstellen. Die JAWA 500cc könnte mir auch gefallen.

Was ist der wichtigste Grund, sich für eine RE zu entscheiden?

Das Handling.

Was ist der wichtigste Grund, es bleiben zu lassen?

Die exzentrische, wartungsintensive Konstruktion.

Was würdest Du einem/r Motorradanfänger/in raten?

Gar nichts. Es gibt fast keine vernünftigen Gründe, so eine unvernünftige Fortbewegungsweise zu wählen. Vielleicht: Lass es langsam angehn.

Was wünscht Du Dir von der Motorradindustrie?

Nichts. Ich habe ja genau, was ich wollte.

Wie sieht die Motorradwelt wohl in 20 Jahren aus?

Ich denke, dass es dann im öffentlichen Raum keine Motorräder mehr geben wird.

Name: Wolfgang ‚Linne‘ Linneweber
Kontakt: www.dialect.de

Linneweber, gelernter Schaufenstergestalter, studierter Industriedesigner, gewesener Galerist, Musikjournalist, Messebauer etc. pp. ist als ehemaliger Pressemann eines bekannten Popfestivals viel gereist, hat viel Musik gehört. 189 groß, 78kg leicht und 66 Jahre alt, schreibt er auch weiterhin Werbetexte und NL/ E/ F/ D Übersetzungen. Er kocht fünfflammig, auch in Kupfer.

Der gebürtige Kölner backt für sein Leben gerne Käsekuchen, schrebergärtnert intensiv, macht Marmeladen ein, stellt selber Sauerkraut und ’suure Fitschbunne‘ her. Alle fünf Wochen backt Linne ca. 15kg Sauerteigbrot aus Vollkorndinkelschrot, mit Kümmel, für das schon Wildfremde an seiner Haustür gekratzt haben. Er steigt bei jedem Wetter in den Solosattel seiner Bullet 500 ES, auch um z.B. mal einen Sack Dolomitkalk oder Saatkartoffeln zum Schrebergarten zu kutschieren.

Linnes Motorrad-Biografie kannte Brüche: Erstes Motorrad war eine Honda Dax 80cc mit Blümchensattel, Nummer zwei eine JAWA 122cc/ 175cc. Zwischendurch ein Intermezzo in Form der Examensarbeit Langstreckenreisemotorrad (mit dem leider verschollenen Komilitonen Tomas Höfler). Inspiration dazu lieferte auch sein uralter Kumpel Gottfried mit einem Chopper auf Basis einer Honda 450er Scrambler. Hier Impressionen der WG, in der Linne (zu der Zeit eher bürgerlich) oft zu Gast war. Dort wurde auch die Idee für das Examensprojekt geboren und wurden erste Vormodelle improvisiert. Ein wichtiger Einfluss war der Kommilitone Michael Dominicus, der – ebenfalls in den Siebzigern – „einen rattenscharfen Seitenwagen“ für seine Moto Guzzi California gebaut hatte.

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5 Comments

  1. „Gar nichts. Es gibt fast keine vernünftigen Gründe, so eine unvernünftige Fortbewegungsweise zu wählen. “

    Eine kluge Antwort von Herrn Linneweber.

    Zu seiner Einschätzung des Motorrades in 20 Jahren: Mein Enfield Händler glaubt auch nicht an die Zukunft von Krafträdern mit Verbrennungsmotor. Er setzt schon jetzt auf Elektrofahrzeuge.

    Ein lesenswertes Interview.

    Herzliche Grüsse
    derhalbhartemann.com

  2. ich sollte evtl. noch einen weiteren kaufgrund erwähnen, der den (wenig überraschend, laut einem händler) zu hohen preis gerechtfertigt hatte: sturzbügel, windschutzscheibe, ledersozius und gepäckträger, zwei fette lederkoffer mit gestell waren dabei. ein vorderreifen mit schlauch, kurzer auspufftopf, motordichtungen, ritzel, (glas)benzin- und x öl- filter, alle schläuche der einlasseite, komplette kupplung, bremsbeläge vorne/ hinten, pedalgummis, getriebeteile usw. dazu die wichtigsten spezialwerkzeuge, anzieher, gabelschlüssel, ventilfederspanner etc. etc. also, wenn mal einer was braucht…

  3. Linne, komm schnell mal nach Amsterdam auf deiner REB!!!

    Hat Frieder Körner damals nicht mitgemacht an eurem Projekt?
    Lieber Gruss,

    Hania

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